Kanalkommentar vom 24. Juni 2004

Das war nun die EM-Vorrunde 2004. 24 Spiele wurden benötigt, um acht Viertelfinalisten heraus zu filtern. In den verbleibenden sieben Spielen wird der Europameister im K.O.-System ausgespielt. Gestern schauten wir aus gegebenem Anlass wieder mono und verpassten daher drei Holland-Tore im "Zweiten", von denen zwei ohnehin irregulär zu Stande kamen. Was wir nicht verpassten war das Spiel unserer Elf gegen die Ersatztschechen. Zum Spiel selbst folgen weiter unten einige weitere Anmerkungen. Man hatte während der 90 Minuten das Feeling wie in einem Film von Wim Wenders: Zunächst einmal Freude, dass ein deutscher Regisseur in der internationalen Filmszene mitwirken darf. Dann wartet man, dass in dem Film irgendwas passiert. Es passiert aber definitiv nichts. Der Schluss ist meist ziemlich trübsinnig. Man verlässt ratlos das Kino und sagt hinterher Freunden, man hätte zumindest sehr schöne Bilder gesehen. Zwei Jahre später geht man dann in den nächsten Wenders-Film und hofft erneut, dass irgendwas passiert.

An der EM-Bar warten wir aber nicht mehr auf Godot. Acht starke Gesöffe haben sich für die nächste Trinkerrunde qualifiziert: Der Norden ist mit "Absolut Kurant" und "Gammel Dansk" dabei, der Osten mit frisch gezapftem "Budweiser", der Süden mit rotem Bordeaux, schwerem Portwein und lakritzig-leckerem Ouzo, der Westen mit hochprozentigem Gin und Genever. Jetzt schütten wir einfach alle diese Getränke in einen großen Eimer, rühren kräftig um und haben auf diese Weise den ultimativen EM-Viertelfinal-Cocktail, den man wunderbar mit langen Strohhalmen direkt aus diesem Gefäß trinken kann. Prost allerseits!

Holland – Lettland

Da wir das Spiel nicht gesehen haben, entfällt ein ausführlicher Kommentar. Es wurde aber wieder in diesem Steinbruch in Braga gespielt. Ob dieses Stadion wohl jemals fertig wird? Wann werden endlich Sitzwannen in die Felsen gehauen? Dann könnte man dort problemlos den nächsten "Flintstones"-Film drehen. Die Letten können nun endlich ihren verdienten Urlaub an der Algarve antreten. Wir gönnen es ihnen. Ist ja auch nicht so einfach, das ganze Jahr bei trübem Wetter in alten Plattenbauten am Stadtrand von Riga zu hausen. Holland darf noch ein bisschen im orangefarbenen Wohnwagen bleiben und Trainer Advocaat neue Spielsysteme zur weiteren Verwirrung seiner Spieler austüfteln. Im Viertelfinale gegen die Elche aus dem Ikea-Land treffen sie mit Sportsfreund Zlatan auf einen alten Bekannten aus dem Ajax-Team.

Deutschland – Tschechien
Karel Brückner (der ultimative Nachfolger von Sepp Herberger) machte tatsächlich ernst und schickte neun Reservisten auf den Rasen. Jeder, der sich mal bei der Bundeswehr herumgetrieben hat, weiß, wie motiviert diese Burschen sein können, wenn man ihnen genug zu trinken gibt. Das machte die Ausgangslage für Rudis Zwerge nahezu aussichtslos. Insofern ist das Ergebnis sogar noch recht passabel. Das Ende war wieder mal typisch deutsch: Mit hängenden Köpfen schlichen unsere Jungs vom Platz, Ballack gab verlegen lächelnd hinterher sogar noch ein paar Interviews. Da kann man von den Italienern nur lernen. Sie inszenierten ihr famoses Scheitern wie eine große Verdi-Oper: Erst überschäumende Freude, dann in Tränen aufgelöst, später wüste Beschimpfungen und Verschwörungstheorien. Das war absolut filmreif und bisher das künstlerische Highlight dieser EM. Deutschland übte sich dagegen in provinzieller Kleinkunst, bei der sogar die Pointen fehlten. Ballack hätte das Zeug zum Heldendarsteller, wenn seine Stichwortgeber nicht ständig ihren Text vergessen würden. Vielleicht wird in der nächsten Spielzeit 2006 alles besser.

Noch mal im Ernst: Rudi hatte keine Alternativen. Die (vermeintlich) "besten" Spieler wurden nach Portugal mitgenommen. Zu viele hatten aber ihre Form zu Hause gelassen. Wie soll man sonst die Leistung von Frings oder Schneider erklären, die in der Bundesliga wirklich zu den stärksten Spielern zählten? Bei der EM sind alle Mannschaften erfolgreich, die mit viel Risiko und Tempo nach vorne spielen. Dieser Trend ging völlig an den Deutschen vorbei. Wer mit ansehen musste, wie Tschechiens Baros bei seinem Siegtreffer Nowotny und Wörns einfach stehen ließ, der hatte eine Ahnung davon, wie weit unsere Mannschaft von der Weltspitze derzeit entfernt ist. Eine gute Halbzeit gegen Holland ist für ein solches Turnier einfach zu wenig. Dabei ist Deutschland doch eine Turniermannschaft – in Europa sogar eine sehr beliebte. Denn seit dem Endspiel 1996 hat das deutsche Team bei großen Turnieren nicht mehr gegen eine europäische Mannschaft gewonnen. Das ist jetzt immerhin schon acht Jahre her. Die kritische Aufarbeitung dieses bitteren Ausscheidens sollte jetzt aber nicht auf BILD-Niveau erfolgen. Rudi hat heute morgen die Brocken hingeschmissen und wird möglicherweise von Ottmar Hitzfeld ersetzt. Junge Spieler mit positiven Ansätzen (Lahm, Kuranyi, Friedrich, Podolski, Hinkel, Hildebrand) sollten weiter in das Team integriert werden. Zu den meisten älteren Spielern gibt es aber leider derzeit keine wirklichen Alternativen. Insofern ist wohl auch der Nachfolger Rudis in einer Situation, die vor einigen Jahren der walisische Trainer und früher Spieler John Toshack folgendermaßen beschrieb: "Am Montag nehme ich mir vor, zur nächsten Partie zehn Spieler auszuwechseln. Am Dienstag sind es sieben oder acht, am Donnerstag noch vier Spieler. Wenn es dann Samstag wird, stelle ich fest, dass ich doch wieder dieselben elf Scheißkerle einsetzen muss wie in der Vorwoche." Der neue Bundestrainer oder Teamchef ist nicht zu beneiden auf seiner Baustelle. Und wir müssen endlich realisieren, dass die WM 2002 (leider) nur ein positiver Ausrutscher war. Solide Aufbauarbeit ist jetzt gefragt. Das Fundament ist gelegt, nun müssen Steine geschleppt und aufgemauert werden. Noch haben wir zwei Jahre ohne Qualifikationsdruck Zeit. Das ist sicherlich noch ausreichend, aber auch nicht übermäßig viel.

Heute Abend geht es für sieben EM-Qualitätstester auf die Kieler Woche. Es wird sicher kein Frusttrinken werden. Vielleicht erleben wir am "Brit-Stand" den Erfolg der Limies gegen die Gastgeber. Daher gibt es morgen statt des üblichen Kanalkommentars einen Aktionsbericht dieser Fachgruppe "Zivkovic".

Eusebio!